Sie steht da, glanzvoll, wie eine lichtumflutete Göttin, eine strahlende Erscheinung auf dem weissen Blatt Papier. Es ist Annette, die Gemahlin,die Freundin, das Lieblingsmodell des Künstlers seit seiner ersten Begegnung mit ihr in der Schweiz (1943).
Seit Anfang der sechziger Jahre schweben die Aktzeichnungen oder Porträts von Giacometti auf der Oberfläche des Papiers, ohne dass irgendeine Andeutung von Wänden oder irgendein Gegenstand des Ateliers den Raum um das Modell begrenzen. Dieser Wille zur Schlichtheit lässt den Weg des Künstlers erkennen, der sein Gefühl der Unwägbarkeit des Lebens und der Unmöglichkeit, ein menschliches Wesen in seiner Ganzheit zu erfassen, verrät. Von den zahlreichen Aktzeichensitzungen von Annette sagt er : „Wenn meine Frau für mich als Modell steht, ist sie nach drei Tagen nicht mehr dieselbe, ich erkenne sie überhaupt nicht mehr.„ Jean Genet, einer seiner engsten Freunde, beschreibt so treffend das Verhältnis der Zeichnung zu der sie umgebenden Leere: „Die Striche existieren nur, um den weißen Flächen Form und Standhaftigkeit zu verleihen. Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass nicht der Strich schwungvoll wirkt, sondern der von ihm begrenzte Raum. Nicht der Strich schafft Dichte, sondern eindeutig die „ Aussparungen“.

Der Künstler eignet sich nicht sein Sujet an. Er versucht, seine Vibrationen im Raum zu erfassen. Das Licht des weissen Hintergrundes „blendet“ die allmählich undeutlich werdenden Umrisse. Dieses Flechtwerk von Linien, das Körpervolumen heraufbeschwört; unser Blick klammert sich an dieses von ihm ausgehende Lebenszeichen, an die unglaubliche Präsenz dieses Lebens in unserer Welt und so auch an das Menschsein.
Giacometti sagte auch: „Und das Abenteuer, das grosse Abenteuer, besteht dann, jeden Tag in demselben Gesicht etwas Unbekanntes zuentdecken. Es ist wichtiger als alle Reisen dieser Welt!“